5.0 out of 5 stars
Beeindruckend ehrlich und absolut lesenswert: RESERVE ("Spare") von Prinz Harry
Reviewed in Germany 🇩🇪 on January 11, 2023
Ich habe mir das Buch - so aus alter royaler Verbundenheit ;-) - um kurz nach Mitternacht runtergeladen. In der Erwartung, nichts so wahnsinnig Neues oder gar Interessantes zu finden. Aber reinschauen wollt ich eben doch schnell - und aus der Hand gelegt hab ich's dann am Morgen um 8 (da hatte ich 93% "geschafft" und mir fielen die Augen einfach zu.)
Mit anderen Worten: fesselnd geschrieben. Stimmig im Aufbau und berührend, sehr berührend.
Ich weiß selbstverständlich, dass ein Ghostwriter mitgewirkt hat.
Dennoch finde ich es beeindruckend, wie gut das Buch geschrieben ist, mit welcher Offenheit Prinz Harry mit den Traumata seiner Kindheit nach dem Tod seiner Mutter und jenen aus den Kriegseinsätzen umgeht.
Harry hat das Buch in drei Teile gegliedert: Kindheit/Teenagerzeit, Militärdienst und das Privatleben mit eigener kleiner Familie. Dem gegenüber steht immer die "große" Familie, die eigentlich eine Institution ist, in der ein ganz normaler familiärer Umgang miteinander nicht möglich zu sein scheint. Körperliche Nähe gab/gibt es kaum - und wie sehr muss das die Entwicklung der eigenen Persönlichkeit beeinträchtigt haben (und auch die anderer Familienmitglieder bis hin zur kürzlich verstorbenen Queen).
"The Crown" ist zwar keine Doku, zeigt aber doch ziemlich gut, was auch Harry erlebt und berichtet: starre und teilweise absolut nicht nachvollziehbare, ja lächerliche Regeln (etwa dass man die Queen zu fragen hat, ob man mit Bart heiraten darf. William musste sich als "heir" rasieren, Harry als "spare" durfte Bart tragen), die das Alltagsleben der Royals denn doch als nicht ganz so easy peasy zeigen. Jeder von uns würde aufbegehren - die Mitglieder der königlichen Familie müssen sich beugen (oder gehen, wie Harry es tat).
Die ganz normalen Geschwisterrivalitäten "bei Königs" - sowohl zwischen William und Harry als auch zwischen den "Kindern" der Queen und deren Ehepartnern/Angehörigen - beschreibt Harry ausführlich. Und sie sind im Grunde genauso, wie es wohl in jeder Familie zugeht. Keinesfalls mit der Intention "die anderen sind immer die Bösen" (wie behauptet wird), sondern durchaus schonungslos mit sich selbst. Nicht voller Selbstmitleid, sondern nachvollziehbar sowohl aus der Sicht des Kindes wie des Teenagers und erst recht des Erwachsenen.
Das alltägliche Leben sieht bei den Royals trotzdem komplett anders aus als bei "Normalbürgern". Der Käfig ist zwar golden, aber es bleibt trotzdem ein Käfig.
Keiner von uns kann sich nur annähernd vorstellen, wie es ist, 24/7 beobachtet werden, ständig von Paparazzi belagert, in einem Terminplan steckend, aus dem man nie ausbrechen kann und darf. Und dabei stets ein royales Lächeln zu zeigen. Selbst wenn man - wie Harry ebenfalls beschreibt, und das ist erschütternd! - als 12jähriger, starr vor Schock und dem noch gar nicht realisierten Kummer über den Tod der Mutter, gezwungen wird, Hände zu schütteln und anderen, fremden Trauernden damit Trost zu geben. Diese Bilder haben wir wohl alle noch vor Augen...
Harry verschweigt nicht, dass Drogen und Alkohol auf seiner wohl wirklich verzweifelten Suche nach der eigenen Gefühlswelt (auch nach den Kriegseinsätzen, die niemanden unberührt lassen) eine Rolle spielten; das macht seine Geschichte in meinen Augen absolut glaubhaft. Er nimmt dieses wilde Leben nicht auf die leichte Schulter, beschreibt jedoch genau, dass er einfach *irgendetwas* fühlen wollte - und das konnte er im Grunde bis zur Therapie nicht, die er endlich mit über 30 begonnen hat. Nun wird ihm genau dies unter anderem von der Familie vorgeworfen, wie er in einem Interview mit Stephen Colbert erzählt: dass er nämlich in einem "Kult der Psychotherapie" stecke. Die Therapie, das sagt er allerdings auch, war für ihn die einzige Chance, nach Jahrzehnten überhaupt "normal" empfinden zu können - und daraus seine Konsequenzen zu ziehen, nämlich ein eigenes, einigermaßen selbstbestimmtes und tatsächlich privates Leben zu führen.
Wie Harry in dem Interview in Colberts "Late Show" ebenfalls sagt: Jeder Mensch kennt wohl Verlust und Trauer in der einen oder anderen Form. Jeder geht damit anders um.
Es gibt viele Kinder und Jugendliche, die solche Gefühle einfach "wegdrücken" und erst als Erwachsene nach Jahren oder Jahrzehnten und nach einer entsprechenden Therapie in der Lage sind, überhaupt etwas zu fühlen, geschweige denn, mit ihren Gefühlen offen umzugehen. Es gibt Jugendliche, die ritzen sich, um etwas zu fühlen. Manche bleiben zeitlebens unfähig, Emotionen zu äußern - und ziehen damit Partner*in und Kinder in einen Teufelskreis, weil sie ihre Gefühlsarmut weitergeben und so die nächste Generation ebenfalls damit zu kämpfen hat.
Die britischen Medien, vor allem die Boulevardpresse, haben, wie stets, aus dem Buch selbstverständlich nur jene Details herausgefischt, die Verkaufs- und Klickzahlen bringen.
Dass das Ganze jedoch weniger eine Abrechnung mit der privaten Familie ist, wie dort kolportiert wird, sondern im Gegenteil eine mit den britischen Tabloids und dem Zwang der Windsors, die Royal Rota zu bedienen, das kommt in fast allen Medien meines Erachtens viel zu kurz. Die Kritik Harrys an diesen Medien, auch am mächtigen Rupert Murdoch kommt da nicht vor. Im Buch wird das jedoch sehr ausführlich geschildert.
Natürlich sind die oben erwähnten Details stets völlig aus dem Zusammenhang gerissen.
Als Beispiel nenne ich die 25 Toten, die Harry im Buch erwähnt und mit denen er sich angeblich "brüste" und damit nicht nur sich, sondern auch andere Militärangehörige konkret in Gefahr bringe. Genau vor zehn Jahren gab es bereits ein Interview, in dem Harry die Frage, ob er Tote zu verantworten habe, öffentlich bejaht hat. Jeder Soldat im Kriegseinsatz rechnet damit (soweit man das kann), töten zu müssen - und da entstehen Traumata, die aufgearbeitet werden müssen, um nach dem Einsatz wieder ein normales Leben zu führen.
Harry reflektiert sehr genau und ausführlich, was während und nach den Einsätzen in ihm vorgeht. Er versucht, seinen inneren Zwiespalt zu erklären und bringt dem Leser nahe, dass jeder Soldat diese Zerrissenheit kennt, verarbeiten muss und damit meist alleingelassen wird. In Harrys Worten: "Ich habe das so ausführlich geschrieben, weil es uns Veteranen allen so geht, und weil das Wissen darum, dass man nicht alleine damit ist, vielleicht den einen oder anderen Selbstmord verhindert." (aus dem Interview mit Colbert).
Beide Militäreinsätze Harrys mussten übrigens abgebrochen werden, weil bekannt wurde, dass und wo er vor Ort ist. Öffentlich gemacht durch genau jene Medien, die jetzt scheinheilig behaupten, seine Äußerungen im Buch würden andere gefährden.
Fazit: Ich finde, das Buch lohnt sich. Gerade auch deshalb, weil endlich mal jemand von den Royals die eigene Geschichte berichtet. Und nicht irgendwelche ominösen und bestimmt nicht uneigennützigen "Quellen aus dem Palast". Es wäre interessant, die andere/n Seite/n zu lesen. Wird nicht passieren, fürchte ich, denn es gilt das royale Motto "never complain, never explain".
Gut, dass Harry diesem Motto nicht mehr folgt. Nur so konnte und kann er Deutungshoheit über seine eigene Geschichte behalten. Und nur so entscheidet er, was wann privat bleibt und was eben nicht.
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